Lange Zeit gab es für seelische Verletzungen nicht einmal einen Begriff. Erst mit der Forschung über Kriegsfolgen wurde bekannt, welch weitreichenden Auswirkungen traumatische Erlebnisse haben können. Doch zu lange gab es dieses Wissen nur in Fachkreisen. Der Großteil der Menschen wusste immer noch nicht, was es damit auf sich hatte, wenn jemand ein psychisches Trauma erlitt und wie es zu einer Traumatisierung kommt.
Zum Glück kam das Thema aber ins Rollen. Seit in den letzten Jahren auch in der Öffentlichkeit mehr über Traumatisierung und psychische Traumata gesprochen wird, häufen sich auch die Fragen dazu. Egal ob an mich persönlich gerichtet oder in diversen Internetforen oder Facebook-Gruppen, immer wieder tauchen diese Fragen auf. Ich möchte hier zehn von ihnen aufgreifen und beantworten.
10 Fragen und Antworten zu Traumatisierung
1. Was ist ein psychisches Trauma?
Die Definition von Trauma ist eine sehr umfassende. Das ICD (International Classification System of Diseases) versteht darunter eine Situation oder ein Ereignis außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophalen Ausmaßes, das bei fast jedem eine tiefe Verstörung hervorrufen würde.
Wir sprechen bei einem psychischen Trauma davon, dass eine Situation erlebt wurde, in der Leib und Leben gefährdet war, in der man überwältigt und erschreckt wurde und das Gefühl hatte, nichts tun zu können. Dabei ist es irrelevant, ob man als Opfer, BeobachterIn oder TäterIn in der Situation war oder später davon berichtet bekommt. Anna Freud hat es 1916 schon treffend formuliert: „Ein Trauma ist eine innere Katastrophe, ein Zusammenbruch der Persönlichkeit aufgrund von Reizüberschwemmungen, die die Ich-Funktionen und die Vermittlertätigkeiten des Ichs außer Kraft setzen.“
Bei einem Trauma geht es also um eine extreme Situation. Äußere Ereignisse können zu einer inneren Zerrissenheit, zu Schockstarre, zu unzureichender Verarbeitung im Gehirn führen. Es ist mehr als ein belastendes Ereignis. Was aber bei einem Menschen „nur“ als stressige Situation wahrgenommen wird, kann von jemand anderem zu einer Traumatisierung führen. Dies kann durch umgebende Umstände, durch andere Personen oder eigene Verarbeitungsstrategien bedingt sein.
2. Wie entsteht ein Trauma?
Michaela Huber hat eine sehr treffendes Bild dafür gewählt, wie ein Trauma entsteht: durch die traumatische Klemme. Dabei kommt es durch das äußere, sehr stressreiche Ereignis dazu, dass das Gehirn mit diesen Reizen so überfordert ist, dass weder Flucht noch Kampf (unsere ureigensten Reaktionsmechanismen) möglich sind.
So bleibt einem in dieser Situation nur mehr eines: zu erstarren und zu spalten. Im Fachterminus nennt sich das „Freeze and Fragment„. Im weiteren Sinne handelt es sich auch hierbei um einen Fluchtreflex, wenn auch um einen inneren. Das Gehirn schaltet die Wahrnehmung der schädlichen Reize aus, indem es den Körper in eine Art Starre versetzt. Das Erlebte wird fragmentiert, man selbst dissoziiert vielleicht sogar. So wird diese Situation nicht als Ganzes wahrgenommen und somit aushaltbar.
So nützlich diese Reaktion in der Akutphase ist, so problematisch kann er später sein. Wenn das Erlebte abgespalten, also dissoziiert ist, kann es nicht vollständig verarbeitet werden. Außerdem kann es dazu kommen, dass unser Gehirn das Angstsystem nicht herunter fährt. Mögliche Folgen sind anhaltende Unruhe, ein Gefühl von Handlungsunwirksamkeit, Wiedererleben und -erinnern oder auch Überempfindlichkeit.
Die Traumakaskade nach Horowitz fasst die Faktoren, die zu einer Traumatisierung führen, gut zusammen. Zu Beginn eines Traumas steht das Gefühl der Überwältigung und Orientierungsverlust. Durch das Abschalten und Ausblenden kann es später zu einem Gefühl des Kontrollverlusts kommen. Werden Traumareaktionen wie Flashbacks oder Angst nicht bearbeitet, nimmt die Kaskade oft einen dauerhaft belastenden Verlauf.
3. Welche Arten von Traumata gibt es?
In der Psychotraumatologie unterscheidet man grob zwei Cluster von Traumata: einmalige (Typ I) und wiederholte, dauerhafte (Typ II). Diese wiederum lassen sich dahingehend unterteilen, ob es einen „Täter“ gibt oder ob es sich um unvorhergesehene Katastrophen handeln. So ergeben sich vier Arten von Psychotraumata:
- einmalige, zufällige Traumata (Naturkatastrophen, Unfälle)
- wiederholte / dauerhafte zufällige Traumata (mehrmalige Naturkatastrophen, langanhaltende technische Katastrophen)
- einmalige, interpersonelle Traumata (Überfälle, Vergewaltigung, Gewalterlebnisse)
- wiederholte/ dauerhafte interpersonelle Traumata (andauernder Missbrauch, Mobbing, Kriegserlebnisse, Folter, häusliche Gewalt)
Was Langzeitfolgen betrifft, so sprechen wir von verschiedenen Störungen. Darunter fallen etwa
- die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)
- Akute Belastungsstörung
- komplexe PTBS
- Anpassungsstörungen
- Dissoziative Störungen
4. „Bin ich traumatisiert? – Traumasymptome verstehen
Sehr häufig gibt es Unklarheit darüber, ob jemand traumatisiert ist oder nicht. Denn in vielen Fällen ist die Traumatisierung als solche nicht gleich klar zu erkennen.
Die Liste der Traumareaktionen und Traumasymptome ist lang. So lang, dass man beinahe alle möglichen Probleme, die Menschen haben können, aufzählen kann. Das liegt einfach auch daran, dass ein erlebtes Trauma, welches nie verarbeitet wurde, nicht nur zu Traumafolgestörungen führen kann, sondern auch zu den meisten anderen bekannten psychischen Störungen (z.B. Depressionen, Schizophrenien, Persönlichkeitsstörungen, Suchterkrankungen, Entwicklungsstörungen…) .
Dennoch möchte ich die klassischen Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung hier anführen:
- Intrusionen: man hört, sieht oder riecht plötzlich Dinge, die während dem Trauma auch da waren. Diese Intrusionen sind wie blitzhafte Erinnerungen an die schlimme Situation. Diese können auch im Traum plötzlich erscheinen.
- Übererregung: der Organismus ist ständig in Alarmbereitschaft, man wirkt „fahrig“. Dauernde Unruhe führen oft zu Folgesymptomen wie
- Schlaflosigkeit
- Gereiztheit
- Schreckhaftigkeit
- Angst und Vermeidungsverhalten: Angst scheint ein ständiger Begleiter zu sein. Man rechnet jederzeit damit, wieder etwas Furchtbares zu erleben. Dadurch vermeidet man gewisse Orte, Handlungen oder Personen. Es kann aber auch sein, dass durch das Trauma das Angstsystem im Gehirn insofern gestört wurde, dass man gar keine Angst fühlt und sich bewusst in Gefahrensituationen begibt
- Dissoziation: besonders bei Konfrontationen mit traumatischen Reizen (aber nicht nur) schaltet sich die Wahrnehmung wieder weg. Die häufigsten Dissoziationen sind
- Depersonalisation (man hat das Gefühl, als würde man neben/über sich sein)
- Derealisation (alles fühlt sich unwirklich an, als wäre es gar nicht echt)
- Emotionale Taubheit (Unfähigkeit, etwas zu fühlen)
- Veränderte Wahrnehmung (Zeit vergeht wie in Zeitlupe oder Zeitraffer, Tunnelblick, Hitze…)
- Dissoziative Amnesie (Unfähigkeit, sich zu erinnern)
- Körperliche Reaktionen: jegliche Form von körperlichen Problemen können Ausdruck eines Traumas sein, z.B. zittern, Herzrasen, Schmerzen, aber auch massive Folgen wie vorübergehende Taubheit oder Lähmungen.
All diese Reaktionen waren in der akuten traumatischen Situation hilfreich, um nicht vollkommen überwältigt zu werden. In weiterer Folge können sie aber das Leben ziemlich beeinträchtigen, wenn man das Erlebte nicht aufarbeitet bzw. integriert.
5. Führt jedes Trauma zu einer posttraumatischen Belastungsstörung?
Nein. Ob ein traumatisches Erlebnis nachhaltig zu Problemen führt, hängt von vielen Faktoren ab.
Zum einen ist da die Art des Traumas zu nennen. Kollektive Traumata sind leichter zu überwinden als solche, bei denen man das Gefühl hat, alleine zu sein mit seiner Geschichte. Außerdem ist ein traumatisches Ereignis leichter zu verstehen und zu integrieren, wenn es nicht per se eine Schuldigen gibt, d.h. bei schicksalshaften Ereignissen und zufälligen Katastrophen. Wird ein Trauma von einem Menschen – vielleicht sogar noch von einem nahestenden – verursacht, ist dies oft schwerer zu verarbeiten. Und dauerhafte Traumata führen häufiger zu PTBS als einmalige.
Weiters spielen auch noch persönliche Faktoren eine Rolle. Das soziale Netzwerk, die allgemeine psychische Verfassung und mögliche Vorbelastungen beeinflussen die Art und Weise, wie ein Trauma verarbeitet wird.
In vielen Fällen verschwinden nur wenige Wochen nach dem Ereignis die akuten Belastungsreaktionen, ohne dass man großartig viel tun muss. Alleine ein Sicherheit gebendes Umfeld reicht oft schon aus, dass die Erinnerungspuzzles im Kopf sich wieder zusammensetzen, der Organismus zur Ruhe kommt und man die Kontrolle über sein Erleben wiedererlangt.
6. Ist man „schwach“, weil man unter einem Trauma leidet?
Es kann aber natürlich sein, dass die Reaktionen nicht von alleine weggehen. Oder einfach irgendwann im Leben besonders stark wiederkommen. Nicht selten nehmen Menschen Traumatisierungen oft erst Jahre später wahr, etwa weil durch eine ähnliche Situation das „schlummernde“ Trauma wieder aktiviert.
In jedem Fall hat es nichts mit Schwäche zu tun, wenn man unter den negativen Erlebnissen leidet. Ganz im Gegenteil: oft entwickeln traumatisierte Menschen unglaubliche Kräfte, die es ihnen erlauben, weiterzuleben. Manchmal arbeiten sie besonders viel und hart, manchmal erkämpfen sie sich einen wichtigen Platz im Leben.
Wenn man bedenkt, wie autonom unser Gehirn in einer traumatischen Situation arbeitet, erscheint es abwegig, jemandem die Verantwortung für seine Traumatisierung zusprechen zu wollen. Eine PTBS hat nichts mit mangelndem Willen oder geringen Fähigkeiten zu tun, sondern damit, dass das Erlebte noch nicht integriert werden konnte.
7. Kann ein Trauma über Generationen weiter wirken?
Ja. Gerade in den letzten Jahren hat sich viel getan in der Forschung. Heute weiß man, dass es diese „transgenerationale Traumaweitergabe“ tatsächlich gibt und teilweise auch schon, wieso das so ist.
Einen bedeutsamen Anstoß in dieser Forschung hat die Epigenetik geliefert. Die Epigenetik beschäftigt sich mit dem Zusammenspiel von Umwelt und Genetik. Während man früher annahm, dies seien zwei getrennte Bereiche, weiß man heute, dass äußere Faktoren Gene an- und ausschalten können.
So kommt es also, dass wir nicht als leeres Blatt auf die Welt kommen. Unsere Vorfahren geben ihre Erlebnisse über ihre veränderten Gene an uns weiter. Das heißt natürlich nicht, dass uns damit auch eine Traumafolgestörung vorherbestimmt ist (immerhin haben wir ja auch zwei Elternteile), sondern dass eine gewisse Verletzlichkeit gegeben sein kann.
Außerdem darf man nicht vergessen, dass tiefgreifende Traumatisierungen oft auch zu dysfunktionalen Familienstrukturen und Bindungsstörungen führen. Kinder und Enkelkinder, die in einem solchem Milieu aufwachsen, bekommen häufig die Traumatisierung der Eltern durch ihre mangelnde Nähe, Überfürsorge oder die Weitergabe von Gewalt zu spüren.
8. Wie kann man ein psychisches Trauma verarbeiten?
Wie oben schon kurz erwähnt, verarbeiten sehr viele Menschen das Trauma ohne große Interventionen. Eine schützende Umgebung und mit anderen darüber zu reden reicht oftmals schon aus. Nach einem erlebten Trauma ist es besonders wichtig, gut auf sich selbst zu achten, sich Zeit zu nehmen und zu geben und sich auf seine Ressourcen zu fokussieren.
Gerade aber bei länger andauernden Traumatisierungen ist es meist hilfreich, professionelle Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Wenn einem etwa lange Zeit Gewalt angetan wurde, ging das meist auch mit Abwertung einher, die tief in das Selbst eingreift. Um das Bild von sich selbst und der Welt wieder gerade zu rücken, ist fachliche Begleitung oftmals sehr heilsam.
Mittlerweile gibt es eine Vielzahl an traumatherapeutischen Methoden, die in ihrer Wirksamkeit bestätigt sind. In einer Traumabehandlung geht es darum, die Fragmente des Erlebten wieder zusammen zu setzen, sich selbst wieder zu spüren, dem Gehirn die Chance zu geben, das Trauma korrekt abzuspeichern, und wieder Handlungsfähigkeit zu erlangen. Ziel ist nicht das Vergessen des Erlebten, sondern ihm den Schrecken zu nehmen. Im besten Fall ist es irgendwann bloß eine Erinnerung, die aber keine Traumareaktionen mehr auslöst und sich nicht mehr in alle möglichen Bereiche des Lebens kämpft.
Auch ich biete Traumabehandlung an. Für Informationen und ein kostenloses Erstgespräch kontaktieren Sie mich ganz unverbindlich.
9. Was können Angehörige von traumatisierten Menschen tun?
Traumata alleine bewältigen zu müssen ist sehr schwer. Jemandem an der Seite zu haben, der einem dabei hilft, ist per se schon heilsam. Die Wirkung von sozialer Unterstützung kann gar nicht groß genug bemessen werden. Doch was genau können Angehörige oder Freunde von traumatisierten Menschen tun?
Zunächst einmal ganz schlicht da sein. Oftmals braucht es gar nicht viel, einfach jemandem, der einem zuhört, glaubt und an den man sich anlehnen kann. Ein weiterer wichtiger Punkt ist Sicherheit geben. Dadurch, dass man dem Traumatisierten Unterstützung anbietet, und für seinen Schutz sorgt. Nach einem erschütternden Ereignis sorgt Sicherheit dafür, dass der Organismus runterfahren kann.
Natürlich ist man dabei oft mit heftigen Emotionen konfrontiert. Während Traumatisierte in der Akutphase oft noch „funktionieren“, lässt der Schock in Sicherheit oft nach. Dann können heftige Weinkrämpfe oder aggressive Äußerungen schon einmal Angst machen. Doch das ist vollkommen normal. Dabei ist es jedenfalls hilfreich, ein Gespräch anzubieten und den Worten des anderen offen gegenüber zu stehen. Dabei reicht es, zuzuhören. Es geht meist nicht um Lösungen, sondern darum, durch das Reden die Gedanken zu ordnen.
Jedenfalls wichtig zu erwähnen ist mir aber, dass Personen, die für Menschen mit Traumaerfahrung da sind, gut auf sich selbst achten. Intensive, wiederholte Erzählungen können selbst traumatisierend wirken. Hierbei sprechen wir in der Traumaarbeit dann von Sekundärtraumatisierung, von der zum Beispiel Angehörige von Soldaten oder auch HelferInnen häufig betroffen sind. Wenn Sie als jemand, der für traumatisierte Menschen da ist, selbst Symptome eines Traumas wahrnehmen, suchen Sie sich bitte Unterstützung!
Was Angehörige in jedem Fall tun können, ist, den Traumatisierten eine Traumabehandlung ans Herz zu legen, wenn die Symptome sehr heftig sind oder lange andauern. Leider scheuen sich viele Menschen immer noch davor, sich extern Unterstützung zu suchen. Je mehr dies von Angehörigen akzeptiert wird, desto eher begeben sie sich aber in professionelle Hände.
10. Helfen Medikamente bei einer Traumafolgestörung?
Gegen Traumatisierung an sich gibt es kein Medikament. Um die Reaktionen darauf in den Griff zu bekommen, braucht es Geduld, ein fürsorgliches Umfeld und bei Bedarf eine Traumabehandlung.
Beruhigungsmittel unmittelbar nach einem psychischen Trauma können sogar kontraproduktiv sein, weil sie die einsetzende Verarbeitung behindern. Nur im absoluten Ausnahmefall sollte daher diese Option erwägt werden.
Wobei Medikamente aber hilfreich sein können, ist bei anhaltenden Schlafstörungen, damit der Organismus wieder zur Ruhe kommen kann, wie auch bei Depressionen, die vielleicht in Folge des Traumas entstanden sind.
Selbstmedikation in Form von Drogen und Alkohol mögen zwar kurzzeitig dazu führen, den traumatischen Schmerz nicht zu spüren, sind aber langfristig keine gute Lösung. Wie auch starke Medikamente hindern diese Substanzen daran, das Erlebte integrieren zu können.
Trauma und Traumatisierung – noch Fragen?
Natürlich ist dieser Artikel nur ein ganz kurzer Abriss in die Welt der Traumaforschung. Alleine zur Dissoziation gibt es bereits dutzende Fachbücher, und viele Spezialthemen habe ich hier noch gar nicht erwähnt (z.B. Trauma bei Kinder oder rituelle Gewalt). Die unzähligen Facetten machen das Thema Traumatisierung so umfangreich wie kaum ein anderes in der klinischen Psychologie.
Ich hoffe, dass ich trotz der Komplexität des Themas einige Fragen zu Trauma und Traumatisierung beantworten konnte. Falls Sie noch weitere haben, schreiben Sie mir gerne!