Was fällt Ihnen ein, wenn Sie an das Wort „Erziehung“ denken? Vielleicht kommen Ihnen Begriffe wie „Beziehung“, „Konsequenzen“, „Fürsorge“ oder „Verantwortung“ in den Sinn? Da haben Sie durchaus Recht, diese Punkte sind durchaus wichtige Komponenten in Erziehungsfragen. Mir ist in meiner beruflichen Tätigkeit in der Arbeit mit Kindern und Familien jedoch aufgefallen, dass kaum jemand Erziehung mit dem Wort „Selbstfürsorge“ verbindet.
Und auch die (sozialen) Medien geben mir Recht: hier werden durchaus hitzige Diskussionen (vor allem unter Müttern) geführt, wie sehr man sich denn zurücknehmen müsse oder nicht, wenn einmal Kinder da sind. Ich beobachte regelrechte moralische Kämpfe darum, wer sich denn nun mehr für sein Kind aufgibt, und Eltern, die zu ihren anderen Rollen und ihrem Freiraum stehen, melden sich irgendwann nicht mehr zu Wort, weil sie attackiert werden.
Hier wurde mir klar, dass es dringend notwendig ist, dem Aspekt der Selbstfürsorge in der öffentlichen Diskussion über Erziehungsfragen wesentlich mehr Raum zu geben und auf die Berechtigung darauf hinzuweisen. Selbstfürsorge als Mama oder Papa zu leben heißt nämlich nicht, das Kind zu vergessen. Ganz im Gegenteil: es ermöglichst ein starkes und klares Verhalten im Alltag.
Selbstfürsorge – was ist das?
Der Begriff der Selbstfürsorge beschreibt, kurz gesagt, mit sich gut umzugehen, sich zu schützen, eigenen Bedürfnisse wahr- und ernst zu nehmen und Belastungen richtig einzuschätzen (Küchenhoff, 1999). Da stecken also einige Facetten mit drin, und allesamt sind bedeutsam im zwischenmenschlichen Handeln – und somit auch in der Erziehung. Selbstfürsorge ist aber kein Zustand, sondern ein Prozess, der mal besser, mal schlechter gelingt. Je nach Tagesverfassung, Anforderung, und individuellen Bedürfnissen kann sie verschieden aussehen. Daher gibt es auch kein „Rezept“, wie man Selbstfürsorge betreibt. Wenn man sich jedoch an den oben genannten Punkten orientiert, ist man auf einem guten Weg.
Da ich gerne mit Bildern arbeite, gefällt mir jenes der „Insel“ sehr gut. Sie steht dafür, dass man sich Raum für sich selbst schafft, wenn man ihn braucht. Dann hat man auch Zeit, neue Kraft zu tanken, zu genießen und durchzuatmen – denn wir Menschen sind nicht dazu gemacht, ständig auf Hochleistung zu laufen.
Die Stufen der Selbstfürsorge
Selbstfürsorge zu betreiben, ist zwar nicht schwer, aber manchmal ein zu weit entferntes Ziel. Ich kenne es sowohl von mir selbst als auch von gestressten Eltern nur zu gut, dass man sich selbst nicht wichtig genug nimmt, um den Fokus auf sein Wohlbefinden zu legen. Der Zustand, dass man es sich gut gehen lässt, ist im Stress mindestens so weit weg wie der Mond von der Erde. Doch der Weg zu unserer „Insel“ ist leichter, wenn wir ihn ein wenig aufsplitten. Dazu habe ich die Stufen der Selbstfürsorge beschrieben, anhand deren man Step-by-Step zum Ziel gelangt.
Eigene Bedürfnisse wahr- und ernst nehmen
Dieser Punkt spielt darauf an, in welcher Rolle man sich selbst sieht bzw. sehen möchte und welche Bedürfnisse erfüllt sein sollten, um sich gut zu fühlen. Diese wahrzunehmen, ist in vielen Fällen der Beginn von Selbstfürsorge – und leider oft auch der am meisten negierte Aspekt in der Erziehungsarbeit.
Belastungen richtig einschätzen
Hierbei steht die wichtige Frage im Raum, wie viel man sich selbst zumuten kann und möchte, und zwar alleine auf Grundlage eigener Bedürfnisse und realistischer Betrachtung der Umstände. Die Forderung, was man können müsste, darf dabei getrost beiseite gelassen werden.
Sich schützen
hierbei geht es um Schutz seiner eigenen Identität und auch seiner Unversehrtheit. Dabei gibt es oft klare Signale vom Körper bzw. der Emotionen. Falls zum Beispiel eine Überlastung droht, ist es für die eigene Gesundheit angeraten, einen Schritt zurück zu treten. Es kann auch bedeuten, sich vor gewaltsamen Handlungen der eigenen Kinder zu schützen oder sich nach konfliktreichen Zeiten bewusst wieder nur auf sich selbst zu konzentrieren.
Sich etwas Gutes tun
Alleine die Tatsache, auf seine Bedürfnisse zu achten oder sich vor negativen Einflüssen zu schützen, ist bereits ein guter Umgang mit sich selbst. Und müdet meist in der Erkenntnis, dass man etwas „braucht“. Sei es, dass man sich einmal wieder Zeit für sich und seine Hobbies freischaufelt, oder gewisse negative Einflüsse von sich fernhält – Hauptsache, es geht um einen selber.
Beispiele für Selbstfürsorge
Wie oben bereits kurz angesprochen, ist es nicht möglich, eine Anleitung für Aktivitäten zu geben, die der Selbstfürsorge dienen. Dies ist einfach zu individuell und immer an die aktuellen Bedürfnissen angelehnt. Ich möchte aber anhand von Beispielen aus meiner praktischen Erfahrung aufzeigen, wie sie aussehen kann. Dabei orientiere ich mich nach oben genannten Stufen und hoffe, dass das Prinzip der Selbstfürsorge in der Erziehung klar wird und was es heißen kann, sich „Inseln“ im Erziehungsalltag zu schaffen.
Beispiel 1: Das laute Haus
Familie M. hat drei Kinder im Alter von drei bis 8 Jahren. Diese sind sehr lebhaft, tollen gern im Haus herum, spielen abfangen und streiten sich auch öfter. Dabei wird meist geschrieen, geweint oder gekreischt. Der Lärmpegel im Hause M. ist daher sehr laut, und das laut Auskunft der Mutter „ständig“.
Nun könnten die Eltern diese Lautstärke mit dem Satz „ach, es sind halt Kinder“ abtun – doch das würde nicht ihren wahrgenommenen Bedürfnissen entsprechen. Die Mutter hat aufgrund des Lärms oft Kopfschmerzen und der Vater fühlt sich gestört. Somit ist es legitim, dass die Eltern ihr Bedürfnis nach Ruhe wahrnehmen und als solches formulieren. Wenn sie beginnen, es ernst zu nehmen, haben sie bereits den ersten Schritt für sich selbst getan. Denn damit erkennen sie, dass es sie überlastet, sich diesem Lärm dauerhaft auszusetzen. Ihre Ohren und Nerven können es sich nach ihrer Aussage nicht leisten, weiterhin so strapaziert zu werden.
Daher müssen sie sich selbst schützen: vor mieser Laune, vor Stress (Lärm ist ein unglaublicher Stressor!), vor Kopfschmerzen und vielleicht auch vor künftigen Hörschäden. In Betrieben gibt es oftmals ganz klare Lärmpegelgrenzen, die eingehalten werden müssen, um die Mitarbeiter zu schützen – warum nicht also auch im eigenen Haus?
Somit sind die Eltern an dem Punkt angelangt, sich selbst etwas Gutes zu tun. Und dies geschieht in diesem Fall auf vielerlei Art. Zum einen sprechen sie mit ihren Kindern über ihr Bedürfnis nach mehr Ruhe, regeln klare lärmfreie Zeiten, und vereinbaren dafür auch eine „Zimmerruhe“ für jedes Kind. Als Ausgleich dafür dürfen die beiden größeren Kinder öfter alleine auf den Spielplatz in der Wohnsiedlung gehen, wo sie sich austoben können (hier kommt ja die Frage ins Spiel: „Welches Bedürfnis steckt hinter dem Verhalten meiner Kinder?“). Zum anderen nehmen die Eltern sich auch öfters bewusst Zeit für Ruhe – ein entspannendes Bad am Abend, Lesen statt Fernsehschauen und ab und zu mal ein Spaziergang alleine.
Beispiel 2: Der unliebsame Kindergarten
In den Kindergarten gehen zu müssen, ist für viele Kinder ein schwerer Schritt. Und haben sie sich dann erstmal eingewöhnt, rennt die Routine und wie bei Erwachsenen auch kommt manchmal die Unlust, dorthin zu gehen. Frau K. Alleinerzieherin und Mutter von A., hat immer öfter mit einer solchen Unlust ihres Sohnes zu kämpfen. Dieser Kindergartenprotest von A. zeigt sich meist am Donnerstag, wenn Frau K. ihren freien Tag hat. Obwohl sie ihn da ohnehin immer bereits gleich nach dem Mittagessen abholt, um Zeit mit ihm verbringen zu können, möchte er den ganzen Tag zuhause bleiben.
In ihrer Rolle als Mutter hat sie die Ansicht, dass es für A. sicher schön wäre, den ganzen Tag bei ihr sein zu können. Ihr Sohn tut ihr leid, wenn sie ihn jeden Donnerstag unter Tränen doch in den Kindergarten bringt. Doch in ihrer Rolle als Freundin, Frau und Angestelle fühlt sie das Bedürfnis, ein wenig Quality-Time für sich selbst haben zu müssen. Diese wenigen Stunden unter der Woche, in denen sie in Ruhe shoppen gehen, sich mit jemanden auf einen Kaffee treffen, oder einfach vor dem Fernseher herumhängen kann. Ihr tut diese Zeit gut, doch nun steckt sie eben in einem Dilemma.
Das Bedürfnis ist also klar: Zeit für sich selbst haben. Beim Spiel mit dem Gedanken, diese Stunden am Donnerstag nicht mehr haben zu können, spürt sie einen Druck auf der Brust. Nicht, weil sie ihren Sohn nicht gerne um sich hat, sondern um ein wenig Ausgleich zum anstrengenden Arbeits- und Alleinerzieherinnenleben zu haben. Sie fürchtet eine Überforderung, wenn sie dieses „Auftanken“ aufgibt. Sie möchte sich selbst also vor Ausbrennen und dem Verlust ihrer Rolle „nur als Frau“ schützen. Also entschließt sie sich, gegenüber ihrem Sohn eine klare Haltung einzunehmen und ihm zu vermitteln, worum es ihr geht. Sie erklärt ihm, dass er weiterhin jeden Donnerstag in den Kindergarten gehen muss, und sie ihn nicht früher abholen wird. Anstatt wie bisher mit schlechtem Gewissen herumzudrucksen, formuliert sie dies nun mit Selbstbewusstsein und erklärt ihm, dass Mamas auch einmal Zeit brauchen für lustige Dinge alleine.
Beispiel 3: Wenn die Morgenstund´ zu früh schlägt
Die vierjährige Tochter von Familie B. hat in den letzten Monaten ihre „Aufwachzeit“ immer weiter nach vor verlegt. Mittlerweile ist sie täglich um 4 Uhr munter und fordert da von ihren Eltern dasselbe ein. Versuche, sie später ins Bett zu bringen, haben nichts gebracht, sie war trotz allem sehr früh wach. Eine hormonelle Störung wurde ausgeschlossen, und daraufhin versuchte gemeinsame Wiedereinschlafversuche blieben wirkungslos. Sie war munter – und die Eltern fertig.
Auch hier stehen sich erstmal zwei Bedürfnisse im Weg: jenes des Kindes nach Mama und Papa, und jenes der Eltern nach Schlaf. Da die Müdigkeit wirklich schon überbordend ist und das alltägliche Leben einschränkt, ist klar: das Bedürfnis ist ernst zu nehmen, wenn die Eltern weiterhin gut funktioneren wollen. Es ist ihnen bewusst, dass zu wenig Zeit am Abend füreinander und zu wenig Schlaf auf Dauer keinen glücklich macht. Im Endeffekt geht es den Eltern darum, sich vor chronischer Müdigkeit und Energielosigkeit zu schützen.
Was konnten diese Eltern also für sich selbst tun? Es ging ihnen darum, zumindest bis 5:30 schlafen zu können. Wie oft in solchen Fällen, wurde das Bedürfnis aber nicht klar kommuniziert, aus Angst, die Tochter vor den Kopf zu stoßen und ihr das Gefühl von Ablehnung zu geben. Doch genau das wurde nun verändert: Die Eltern erkärten ihrem Kind, dass sie einfach zu einer Zeit munter ist, zu der sie noch schlafen möchten. Es wurde eine Uhr ins Kinderzimmer gehängt, und darauf markiert, ab wann sie die Eltern wecken darf. Ihr wurde keineswegs das „Muntersein“ abgesprochen, nur das Wecken. So legten sie gemeinsam mit der Tochter jeden Abend Spielsachen und Bücher zurecht, mit denen sie sich bis zur angezeigten Zeit beschäftigen konnte.
Selbstverständlich versuchte das Kind noch einige Male, die Eltern vorher zu wecken. Durch klare Worte („es ist noch zu früh für uns zum Aufstehen, wir möchten noch schlafen, bitte bleib inzwischen in deinem Zimmer“) gelang es aber nach wenigen Wochen, die Weckzeit nach hinten zu verschieben.
Was ist die Wirkung von gelebter Selbstfürsorge?
Nachdem die Ergebnisse der obrigen Beispiele mehr Ruhe für Familie M., erhaltene Zeit für sich von Frau K. und längerer Schlaf für die Eltern B. waren, können Sie sich bestimmt denken, welche Wirkungen Selbstfürsorge hat.
Hat gelebte Selbstfürsorge in der Erziehung Platz und erlauben sich Eltern, auch auf sich selbst zu achten, stellt sich ein Effekt ein: ein entspannteres Familienklima. Und das ist ganz klar, denn Eltern, die Stressoren minimieren und auf ihre Bedürfnisse achten, sind in der Regel entspanntere Zeitgenossen – auch und besonders für ihre Kinder! Daher ist es nicht nur legitim, sondern auch gut, wenn sie sich als Mama oder Papa Zeit für sich und ihre Wünsche nehmen.
Natürlich stehen oftmals enttäuschte Kinder mit zurückgestellten Bedürfnissen im Fokus der Aufmerksamkeit. Das ist auch verständlich, denn in den oben genannten Beispielen waren die Wünsche der Kinder meist entgegengesetzt zu jenen ihrer Eltern. Doch genau hierin liegt der Schlüssel: was ist ein Wunsch, und was ein echtes Bedürfnis? Steckt „mehr“ hinter dem Verhalten des Kindes, ist es Ausdruck eines Problems, das unbedingt beachtet werden sollte? Oder will es einfach nur etwas? Klarerweise steht auch hinter dem „Wollen“ ein guter Grund, jedoch muss man nicht jeden Wunsch unserer Mitmenschen erfüllen – auch nicht von Kindern. Und dass Kinder durch Grenzsetzung, die ihnen verständlich gemacht wird, nicht geschädigt werden, ist bekannt.
Wenn sich Eltern also – neben ihrer ganzen Fürsorge, den anfallenden Pflichten und dem Wahrnehmen ihrer Verantwortung – auch um sich selbst kümmern, auf sich achten und ihre Bedürfnisse genauso wahrnehmen wie die der Kinder, ist ein großer Schritt getan. Ein Schritt in Richtung Rollenvielfalt, Individualität und gutem Vorbild. Und so bekommt ihr Kind auch die Gelegenheit zu lernen, wie man seine Bedürfnisse angemessen formuliert und gut auf sich selbst schaut.
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